Sogar eine ganze Oberstufenklasse aus Stuttgart mit Ihrem Lehrer Fabian Wenzel ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen und erfuhren, dass Dogmen viel jünger sind als meist gedacht und in der kirchlichen "Tradition" viel mehr Potential und Vielfalt für Innovation und Veränderung innerhalb des "Subjekts" Kirche stecke als wir gemeinhin wissen.
Am Beispiel eines ursprünglich barocken Heiligenbildes von Nicola Samora (Giardino verticale) aus dem Jahre 2014 zeigte er den "Preis der Vergegenwärtigung" auf, wies aber ebenso anhand eines Zitats des ehemaligen Bischofs von Rottenburg-Stuttgart und späteren Kurienkardinals und ehemaligen Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen Walter Kasper darauf hin, dass "das Dogma, das an sich der ekklesialen Liebe dienen müsste, aufgrund der Sündigkeit der konkreten Kirche auch einmal gegen die Liebe verstoßen" könne, "indem es hart, abstoßend, frostig abweisend, unverständig für das wirkliche Anliegen des anderen formuliert ist, indem es rechthaberisch und voreilig abgefasst ist. Um der wahren Funktion des Dogmas willen könnte und müsste die Kirche dann, wenn sie diese Mängel einsieht, ihr aktuelles Bekenntnis neu formulieren." (W. Kasper, Dogma unter dem Wort Gottes, 146f.)
Das Dogma sei eigentlich ein Produkt der Moderne und so wie wir es heutzutage kennen, erst im 19. Jahrhundert im Kontext des 1. Vatikanischen Konzils entstanden. Die Lehre der Kirche und die dogmatische Lehre seien aber nicht identisch, sondern lediglich "ein Versuch Streitfragen zu klären". Einmal aufgestellte Dogmen seien aber durchaus korrigierbar, was in der neueren Geschichte am Beispiel der Todesstrafe, des Monogenismus, also der Aufgabe der früheren Lehrmeinung, die Menschheit stamme biologisch von Adam und Eva ab, sowie der "Innovationsverschleierung" im Falle der Religionsfreiheit auch mehrfach geschehen sei.
In Bezug auf die zukünftige Entwicklung der Kirche und der Frage, welche Rolle dabei der Synodale Weg, ein mögliches 3. Vatikanisches Konzil oder der "Glaubenssinn der Gläubigen" spiele, zeigte er auf, dass es neue Formen der Beteiligung angesichts der vielen drängenden und zu klärenden Fragen bedürfe, dass es aber immerhin schon möglich sei, überhaupt wieder über diese Fragen zu diskutieren.
Entscheidend sei, dass das Argument wieder Vorrang vor der Autorität habe, ebenso wie, wiederum Walter Kasper zitierend, "das Evangelium keine historische Größe" sei, "sondern eine gegenwärtige Macht, die sich in Bekenntnis und Zeugnis der Kirche immer neu Ausdruck verschafft, ohne jemals in diesem Bekenntnis aufzugehen." (Walter Kasper, Dogma unter dem Wort Gottes (Gesammelte Schriften 7: Evangelium und Dogma. Grundlegung der Dogmatik), Freiburg im Breisgau 2015)
Prof. Seewald (*1987) wurde im Jahre 2017 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung als erstem Theologen der Heinz-Maier-Leibnitz-Preis für "herausragende wissenschaftliche Leistungen" verliehen. Er wurde 2016 auf den Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster berufen und arbeitet dort auch als Principal Investigator am Excellenzcluster Religion und Politik der Universität zusammen mit etwa 200 Wissenschaftler*innen aus mehr als 20 verschiedenen Disziplinen und 14 Nationen.